Ist das Leben ein Märchen?
02.04.2005 – Peter Kern
Hans Christian Andersen hatte am 02.04.2005 seinen 200. Geburtstag. Er zählt zu den größten Märchenerzählern.
Märchen - damit verbindet man im heutigen Sprachgebrauch: Du schwindelst mir etwas vor, Du erzählst Lügengeschichten. Märchen sind etwas erfundenes, etwas phantastisches, etwas erträumtes. Ist es wirklich so? Oder erzählen Märchen vielleicht doch vom einzigen Leben, das jeder hat?
Nehmen wir einmal an, es kommt ein Mensch zur Welt, und in seiner Seele spielt Musik. Er summt und singt bevor er sprechen kann, und erlernt in seiner Schulzeit sogar ein Instrument. Der Mensch spielt in verschiedenen Orchstern oder Bands mit, und Musik ist das, was Freude in sein Herz legt. Dann kommt die "Erwachsenenzeit", und auf Drängen der Eltern, der arbeitslosen Gesellschaft und im Vorbild der Schulfreunde fängt er an, mal überlegen, Betriebswirtschaft zu studieren. Die Musik gerät unmerklich mehr und mehr in den Hintergrund. Immerhin winkt Geld und Karriere nach dem Studium, das er so lala absolviert. Seine Mundwinkel gehen nur selten nach oben, ganz anders als früher in den Orchestern. Aber er bemerkt es gar nicht mehr, er ist gefordert in seinem Beruf, in dem er für mehr Effizienz eines Konzerns sorgt. Er verdient gutes Geld, der Konzern verdient noch besseres Geld, die Angestellten werden arbeitslos. Die Gesellschaft funktioniert.
Lassen wir den Musiker ein Kind der 60er Jahre sein. Pluto-Uranus begleiten dabei jeden, manche werden noch mit Saturn in diesem Verbund gesegnet. Sie arbeiten hart und härter, sie sind die Vorzeigestützen der Gesellschaft, sie haben es zu etwas "gebracht", so wie die Eltern es sich für ihre Kinder gewünscht haben. Pluto - Uranus: Uranus ist das Ursprüngliche und damit Echte an einem Menschen, Pluto hingegen ein Gleichmacher. Pluto kann das Echte nicht brauchen. Es wäre Vielfalt und Talent, dabei braucht Pluto linientreue Anhänger
einer Lehre und Richtung. Wissenschaftlich wird alles, in Statistiken gepreßt. Das Echte wird im Laufe der Zeit sogar per Gesetz verboten.
Pluto - Uranus kann nach W. Döbereiner zu einem handfesten Herzleiden werden, denn von Freude ist da nicht mehr viel zu spüren, und das Herz braucht Freude, um schlagen zu können.
Der Welt fehlt das Talent des verhinderten Musikers. Statt seiner lebendigen Klänge quälen "Superstars" mit monotonen Klangfolgen Ohr und Herz der Zuhörer. Monotonie in der Arbeit und in der Freizeit - so stirbt im Laufe der Zeit jegliche innere Regung ab. Sex wird zum Volkssport, Kinder in Reagenzgläsern produziert. Literatur wird zum Tummelplatz der Enzenbergerschen Sekundär-Analphabeten (diese können zwar Lesen und Schreiben, aber leider nicht Denken), und der Schlagzeilenerfinder. Keine Frage, Leben ist das nicht.
Und stellen Sie sich vor, der junge Musiker würde mit seinem Instrument gegen den Wunsch seiner Eltern ins Ungewisse springen, hier für ein paar Euro auftreten, dort für ein paar Dollar Unterricht geben, weiter üben, durch die Welt ziehen und eigene Erfahrungen machen, Erfahrungen, die an keiner Universität gelehrt werden: eben Lebenserfahrung. Und dann kommt unweigerlich der Tag, an dem er auf einer Bühne steht, und sein Publikum ihm applaudiert. Sein Herz freut sich, seine Mundwinkel sind nicht mehr runter zu kriegen.
Ein Märchen?
Nein, so könnte das Leben auch sein. Ungewiß, unsicher, das Scheitern im Gepäck, entbehrungsreich bis hin zum Lebenserfolg, und immer in der eigenen Hand.
Ach, Verzeihung. Jetzt bin ich wieder mal in meiner romantischen Ader versunken. So kann doch heute niemand leben! Utopisch, traumhaft, märchenhaft.
Und doch … vielleicht lese ich das Märchen vom "standhaften Zinnsoldaten" noch einmal. Der fiel aus den Reihen der Braven hinaus, fiel ins Wasser, ins Ungewisse, konnte nicht anders als sich treiben lassen. Und am Ende findet er seine große Liebe, und was übrig bleibt, ist sein liebendes Herz.
Wagen Sie es doch, und lesen Sie einmal wieder ein Märchen. Im Internet einfach und kostenfrei im
Projekt Gutenberg.
Und wer weiß, vielleicht finden Sie Ihr eigenes Märchen, das Sie schon lange vergessen haben. Märchen sind selten für Kinder geschrieben. Ein Dichter wie Hans Christian Andersen schrieb wohl meist über sein eigenes Leben. Es sind Geschichten für Erwachsene, Geschichten, die an den eigenen Urgrund des Lebens führen können. Man muß Mut haben, ein Märchen zu lesen, und noch mehr Mut ein märchenhaftes Leben zu führen.
02.04.1805, 01:17 MEZ, Odense (Dänemark)
Hans Christian Andersen hat einen Ascendenten im Zeichen Schütze, der zugehörige Jupiter ist in Haus zwölf.
Damit steht er selbst schon im Ungewissen, im Wasser, das ein häufiges Thema seiner Märchen ist. Er erzählt mit seiner Widder-Sonne in Haus drei vom Beginn des Lebens, von Schwierigkeiten und Ungewissheiten, vom Ausgestoßen sein, und davon, seinen ureigensten Weg zu gehen.
Als Schütze reiste er natürlich viel, "er litt unter einer unstillbaren Reisewut", und seine ersten Schreibversuche waren Reiseschilderungen.